
Die Zirkuswelt ist eine besondere, kosmopolitische, sich vom normalen Alltag bewusst absetzende Welt. Doch ganz abkoppeln von globalen Trends kann selbst sie sich nicht. So durchlebte die internationale Zirkusszene in den vergangenen Jahren eine Phase der De-Globalisierung. Die Pandemiezeit wirkte sich besonders stark auf China aus und es scheint, dass die traditionell für Sensationen bekannten chinesischen Truppen sich erst langsam davon erholten. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine führten zu einer begründeten Zurückhaltung gegenüber russischen Artisten, die bei allem Respekt vor ihren individuellen Leistungen, gerade wenn sie von staatsnahen Institutionen stammen, eben auch den Aggressorstaat repräsentieren.
Das diesjährige internationalen Circusfestival von Girona markiert vielleicht den Beginn einer Phase der „neuen Normalität“, die der alten wieder erstaunlich ähnlich ist. Das Festival, dessen Alleinstellungmerkmal in der erstmaligen Präsentation von Darbietungen aus aller Welt in Europa liegt, ist ein guter Gradmesser für internationale Trends. Die chinesischen Truppen sind in gewohnter Stärke zurück, russische Artisten machen einen signifikanten Anteil des Teilnehmerfelds und der Preisträger aus. Sie treten an neben ukrainischen Artisten, die in erstaunlicher Resilienz trotz widriger Umstände weiter Spitzenleistungen erbringen. Artisten aus Südamerika und der Mongolei, Profiteure der Verwerfungen der letzten Jahre, spielten diesmal eine eher untergeordnete Rolle.

Auch im Hinblick auf die dargebotenen Genres waren interessante Trends zu beobachten. Die Kombination von Einradartistik mit anderen Disziplinen scheint ein solcher zu sein und war als Solo wie auch im Duo vertreten. Während die noch am Karriereanfang stehende Ukrainerin Anna Fursenko mit ihrer Einrad-und-Hula-Hoop-Darbietung neue Akzente setzte, die noch etwas Weiterentwicklung bedürfen, überzeugten Marie-Lee Guilbert und Philippe Bélanger aus Kanada auf ganzer Linie. Ihr „Pas de Deux“ auf dem Einrad mit ihm als „Base“ enthielt erstaunliche Tricks wie den Handstand auf seinen Armen, den Stand Fuß-auf-Kopf sowie als Höhepunkt einen Handstand auf seinem Kopf. Die beiden Artisten, die bereits in mehreren Shows für den Cirque du Soleil gearbeitet hatten, erhielten einen silbernen Elefanten.
Silber gab es auch für russische Akrobatik-Quartett Uniqum. Die vier Akrobaten zeigten Dreifachsalti vor- und rückwärts sowie als Originaltrick einen Handstand zu Vier-Mann-Hoch – alles mit Präzision und scheinbar mühelos.

Gleich fünf Strapatennummern im Wettbewerb waren eine etwas einseitige Häufung, ließen aber interessante Vergleiche zu, besonders zwischen den drei Duos. Das russisch-ukrainische Duo DayLight wählte den Adagio-Stil ganz in weiß mit einem Solo-Intro im Zopfhang. Mit so starken Tricks wie der schnellen Rotation im doppelten Zahnhang und dem riskanten Rutschen vom Knie in den Fußspannhang sicherten sie sich Bronze.
Das amerikanisch-russische Duo Desire gewann den Spezialpreis der Jury und überzeugte mit fließenden Übergängen von Trick zu Trick, die zur treibenden Rockmusik kaum Gelegenheit zum Durchatmen boten. Der dynamische Up-Tempo-Stil ist selten für das Genre - interessant, wie das Gitarrensolo den Trommelwirbel ersetzt zum Aufbau der Spannung zum Schlusstrick, einem Fall der Partnerin aus ca. zwei Metern Höhe in die Arme des am unteren Ende der Strapaten hängenden Partners.

An antike Bilder erinnerte das russische Duo „On Exhale“ in goldenem Kostüm zu sphärischem Gesang und Geigenklängen. Sie auf seiner Schulter stehend, steigen die beiden empor, sie landet aus dem Fall einen Moment später in seinem Arm und einen weiteren Moment später in seiner Kniekehle – die Trickfolgen so anmutig, die Wechsel zwischen den Tricks so schnell, dass man ihr extremes Risiko fast vergisst. So sind nicht nur die Kostüme golden, sondern auch der verdiente Preis.
Der Solo-Strapatenartist Aidan Bryant konnte bei dieser Konkurrenz trotz starker Tricks keinen der Hauptpreise mit nach Hause nehmen. Außerdem war noch Nikol Taranenko mit einer jugendlich-verspielt wirkenden Solo-Strapatendarbietung im Programm, die mit dem Preis der Fotografenjury belohnt wurde.
Der zweite goldene Elefant ging nach China, an die Suining Acrobatic Troupe für eine atemberaubende Kombination aus Partnerakrobatik, Kontorsion und Tonschalenbalance. Selbst bei Sprüngen im Handstand von den Füßen auf die Arme der Unterfrau blieben die Schalen gekonnt im Gleichgewicht. Das galt auch beim Schlusstrick, bei dem die Unterfrau eine Leiter erklimmt, während auf ihrem Kopf ihre Partnerin im Einarmer steht. Einzig das dem Anschein nach sehr niedrige Alter der Artistinnen erzeugte etwas gemischte Gefühle – im Engagement wird man diese Darbietung in Europa wohl nirgends sehen.

Der zweite chinesische Festivalbeitrag stammte von der Cangzhou Acrobatic Troupe. Die acht Artisten balancierten drachenartig stoffbespannte Masten, während sie eine Mischung aus fernöstlicher Choreografie, Handvoltigen und ikarischen Spielen darboten. Die ungewöhnliche und vor allem mit ihrer opulent-farbenfrohen Optik beeindruckende Performance wurde mit Bronze ausgezeichnet.
Die Riege der Bronzepreisträger wird vom Trio Zholdasovy aus Kasachstan komplettiert. Schnörkellos, klassisch, leistungsstark – so lässt sich ihre Nummer am Russischen Barren beschreiben. Angetrieben von den Klängen von „Hit the Road Jack“ steigert sich die Waghalsigkeit der Sprünge zum doppelten gestreckten Rückwärtssalto und dem dreifachen Rückwärtssalto – immer souverän gestanden.

Die Kritikerjury entschied sich bei ihrem Preis für den chilenischen Jongleur Chris Aguirre, der die fünfte Artistengeneration seiner Familie repräsentiert. Sein Auftritt, bei dem er mit bis zu sechs Keulen und fünf Fußbällen jonglierte, enthielt viel südamerikanisches Temperament, jedoch wenig Alleinstellungsmerkmale.
Wie es sich für den klassischen Stil des Festivals gehört, gab es natürlich auch Clowns. In der einen Auswalshow durfte Cachipuchi aus Chile das Publikum zum Lachen bringen, in der anderen Show sorgte das „Entry Clowns Team“ dafür. Sie sind jeweils typische Vertreter der Clownstile ihrer Heimatländer, konnten aber keine allzu überzeugenden neuen Akzente setzen.
Gäbe es einen Preis für die beste Choreografie, dann hätte er wohl zwei Anwärter. Die japanische Formation Haribow verband Seilspringen mit noch nicht zuvor gesehener tänzerischer Virtuosität. Vom Urban Dance inspiriert, war ihre Nummer ein einziger rasanter „Dance-Battle“, durch welches das Seil in stets perfektem Timing hindurchwirbelte.

Choreografisch stark auf andere Weise war das Tria Davydenko aus der Ukraine. Denn die drei jungen Artistinnen Daria, Oleksandra und Valeriia verstanden es, ihre auch technisch starke Partnerakrobatik in fließende und synchrone Bewegungsabläufe einzubetten. Die drei Schwestern sind auch als Solo-Handstandartistinnen erfolgreich. Insbesondere Valeriia ist in der Welt der Zirkusfestivals keine Unbekannte – und zudem mehrfache Weltrekordhalterin im Handstand.
Bei diesem starken Teilnehmerfeld war die Dreizehn alles andere als eine Unglückzahl für die Festivalorganisatoren. Wir erlebten nämlich die dreizehnte Ausgabe dieses Festivals, das nicht nur Artisten, sondern auch Fachpublikum aus aller Welt anzieht. Direktor Genis Matabosh lebt für den Zirkus – davon zeugt nicht nur sein Festival, sondern auch die übrigen Aktivitäten seiner „Circus Arts Foundation“. Wer das Festival erstmals bereist, sollte unbedingt einen Abstecher in das von ihm geschaffene Museum, das „Circusland“ in Besalú, einplanen.
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